LE MONDE LIBERTAIRE nach graswurzel revolution oktober 1995 Was wir erst noch schaffen wollen, ist andernorts langst Realitat: Heute kann man/frau die Wochenzei- tung "Le Monde Libertaire" in Frankreichs gr=F6sseren Stadten nahezu an jedem Kiosk kaufen. Mit einer Auflage von ca. 10.000 ist sie immer noch die am weitesten verbreitete und meistgelesenste libertare Zeitung Frankreichs. Zusammen mit der englischen "Freedom" und der spanischen "Solidaridad Obrera" geh=F6rt sie sicher zu den traditionsreichsten anarchi- stischen Zeitungen, die bis heute uberlebt haben und dabei in ih@er Bedeutung keineswegs marginal ge- worden sind. Im November 95 wird die "Le Monde Libertaire" 100 Jahre alt (bis 1954 als "Le Libertai- re"). Schon im Mai diesen Jahres war die eintau- sendste Ausgabe erschienen. Wir sprachen rnit Wally Rosell, einem heutigen Mitarbeiter der Zeitung. Die Geschichte der Zeitung spiegelt recht deutlich die Geschichte des franz=F6sischen Anarchismus im 20. Jahrhundert wider. Wally ist Sohn des langjahrigen Herausgebers und Aktivisten Maurice Joyeux und hat uber seinen vor einigen Jahren verstorbenen Vater eine sehr lange, innige Beziehung zur Geschichte der Zeitung. (Red.) GWR: Die Zeitung "Le Monde Ubertaire" hat eine traditions- reiche Geschichte, die bis zur Grundung durch Sebastien Faure und Louise Mich@l im Jahr@ 1@195 zuruckreicht. Welche Bedeutung misst du der Geschichte dieser Zeitung bei? Wally: Die anarchistischen Zeitungen in Frankreich haben oft ihre Namen geandert. "Le Monde Libertaire" hiess zuerst "Le Libertaire". Sie erschien durchgehend, ausser in zwei kur- zen Perioden wahrend des Er- sten und des Zweiten Weltkrie- ges. Obwohl es andere Zei- tungen gab, bildete "Le Monde Libertaire" immer das Ruckgrat der anarchistischen Szene in Frankreich. Wenn wir uns an- sehen, was drin stand, finden wir die Sozialgeschichte Frankreichs und die Geschichte der anar- chistischen Bewegung mit ihren Kampfen, Problemen, Konflikten. Zeitung nicht sehr individua- listisch und wurde sie nicht spatnr anarcho@:yndikalistisch, also gewerkschaftsbezogen? Hat es eine Entwicklung der domi- nanten anarchistischen Rich- tungen gegeben? Wally: Das ist komplexer ge- wesen. Beim Zeitungmachen ging es zunachst auch immer darum, dass Geld gebraucht wurde. Die Revolution kam mor- gen, heute brauchtest du Geld! Die Zeitungen des franz=F6sischen Anarchismus waren wie ein Spiegelbild der Epoche. Bei der Begrundung der "Le Ubertaire" gab es die Individualistlnnen dann vor allem Syndikalistinnen wobei die anderen Anarchistln- nen sehr integriert waren. Die anarchosyndikalistische Bewe- gung in Frankreich war zu Be- ginn des 20. Jahrhund@rts sehr stark. Aber sehr schnell hat die ganze Bewegung in dieser Zei- tung Ausdruck gefunden. Zuerst hatte noch jede anarchistische Richtung ihre eigene Zeitung. Es gab viele Zeitungen, "Le Monde Libertaire" ist ubriggeblieben. Dort schrieben immer die grossen, markanten Pers=F6nlich- keiten, Louise Michel und Sebastien Faure am Anfang, dann Louis Lecoin zwischen den Kriegen, danach Leute wie Maurice Joyeux. Sie war nie die einzige anarchistische Zeitung, aber sie war die einzige, auf die sich alle Anarchistlnnen be- zogen. GWR: Was waren die wichff- gen Diskussionen, die staman- den? Wally: Zum Beispiel die grossen Debatten uber Syndika- lismus, uber Attentate, uber den spanischen Burgerkrieg, uber die Organisation der russischen Exilrevolutionare um Machno und Arschinoff und ihre "Platt- form". Nach dem Zweiten Welt- krieg gab es eine grosse Debatte uber den Surrealismus, die Dis- kussion mit und uber Camus, um 68 auch mit Cohn-Bendit. Und jedesmal gingen Leute, die nicht mehr einverstanden waren mit der libert@iren Synthese, die es gab. Aber viele kamen auch wie- der zuruck. In den 20er Jahren waren die grossen Themen die problemati- sche Entwicklung der urspruna- lich syndikalistischen Gewerk- schaft CGT und die Geschichte um das Todesurteil gegen Sacco & Vanzetti. In dieser Zeit war Lecoin sehr wichtig, er verk=F6r- perte die Verbindung von pazi- fistischer und syndikalisffscher Str=F6mung. Das war auch die Zeit in der "Le Libertaire" fur langere Zeit Tageszeitung wurde. Zuvor war das schon einmal der Fall gewesen, wahrend der Dreyfus- Affare um die Jahrhundertwende (1). Und in den 30er Jahren gab es die grossen Debatten uber den spanischen Burgerkrieg, ob eine Armee.notwendig war, ob man/ frau daran teilnehmen sollte. Die Rolle von Einzelpersonen GWR: Welche Rolle spielten Organisationen und welche @olle spielten Einzelpersonen bei der Aufrechterhaltung der Kontinuitat der Zeitung? Wally: Die Geschichte der Zeitung ist stark mit der Ge- schichte der franz=F6sischen anar- chistischen Organisationen ver- bunden. Und diese Geschichte ist chaotisch. Leute -wie Se- basti@n Faure, Pierre Martin Louis Lecoin, Maurice Joyeux waren grosse Figuren in der Be- wegung. Auch wenn sie biswei- len kritisiert wurden, waren sie trotzdem anerkannt. Und - sie garantierten die Kontinuitat der Zeitung. Lecoin war sehr indivi- dualistisch. Er machte die Zei- tung eine Zeitlang nahezu allein. Dann wurde wieder versucht, ein Kollektiv mit der Herstellung der Zeitung zu betrauen, aber die Zeitung wurde letztlich immer von starken Einzelpersonen ge pragt, bis vor vielleicht 10, 20 Jahren. Heute ist das nicht mehr der Fall, auch weil es solche Leute nicht mehr gibt. Die anar- chistische Bewegung stutzt sich nicht rnehr auf Einzelpersonen, die nationales oder internationa- les Gewicht haben. GWR: Welche Bedeutung hat Paris fur die Zeitung? Wally: Tja, da gibt es in Frankreich das grosse Problem des Zentralismus. Die Leute sa- gen, es gibt Paris - und den Rest der Welt. Das ist nicht wie in der BRD., in Italien, in Spanien oder auch noch in Belgien, wo wir mit der dortigen Zeitung "Alternative Libertaire" eng zu- sammenarbeiten. Eine Zeitung, die viel in Paris gelesen wird, bekommt tatsachlich immer den Rang einer nationalen Zeitung. Dieser Z'entralismus ist zwar zu verurteilen, der "Le Monde Li- bertaire" hat er gleichzeitig aber geholfen, dass sie uberlebt hat. Nur durch Paris war es m=F6glich, zu einer nationenweit bedeutsa@ men Zeitung zu werden, die trotzdem nur von wenigen Leu- ten gemacht wurde und wird. GWR: Wie veranderten sich Vertriebswege und Auflage? Wally: Vor dem Zweiten Welt- krieg war "Le Libertaire" Tages- zeitung, sie wurde viel gelesen. Dabei gab es zwar immer Leute, die Geld spendeten, aber es gab vergleichsweise wenige Abon- nentlnnen. Die Auflage hing von den grossen sozialen Bewe- gungen ab. In Spannungszeiten kauften mehr Leute die Zeitung, dann ging die Auflage wieder zuruck. 1947 gab es bei Renault einen Streik, bei dem Trotzkistlnnen und Anarchistlnnen einigen Ein- fluss hatten. Die Kommunistische Partei war zu dieser Zeit an der Regierung beteiligt und ver- urteilte Arbeiterlnnenstreiks als vom CIA gesteuert. "Le Liber- taire" hatte zu dieser Zeit eine Auflage von 150.000. Das war ein H=F6hepunkt. Danach gings berg- ab. 1968 ging die Auflage wieder hoch. Jetzt ist die Zeitung wiedsr Wochenzeitung und die Auflage liegt bei 10.000. GWR: Warum hat es 1954 eine Namensanderung von "Le Liber- taire" zu "Le Monde Libertaire" gegeben? Hat das mit einer in- haltlichen Entscheidung zu tun? Wally: Ja, dazu muss ich etwas zu den Entwicklungen nach 45 sagen. Alles nach 45 hangt mit der Aufarbeitun@ der Resistance wahrend der Besatzung durch die Nazis zusammen. Bei den ersten anarchistischen Treffen nach der Befreiung - 1945 gab es das erste in Paris - entwik- kelte sich ein Streit, der darum ging, dass die Anarchistlnnen wahrend der Widerstandszeit zwar auch gegen die Faschisten gekampft hatten, aber nun schlechter dastunden als die Kommunistische Partei, weil sie weniger Strukturen aufgebaut hatten. Dafur wurde die indivi- dualanarchistische Richtung ver- antwortlich-gemacht, die gegen jede Organisation war. 1945 war der Anarchismus, vor allem durch die vielen Exilierten des spanischen Burgerkrieges, in Frankreich noch sehr lebendig. Leute wie Fontenis, Lapere Joyeux und sogar Lecoin mein- ten damals, dass die Anarchistln- nen als Lehre aus der jungsten Zeit eine solide, starke Organi- sation brauchten. Sie verbanden "Le Libertaire" mit dieser neuen Organisation, der "Federation Anarchiste". Zu Beginn der 50er Jahre gab es aber eine Auswirkung des Kalten Krieges in der anarchisti- schen Bewegung. Bestimmte Leu@e dachten, dass der klassi- sche Anarchismus keine Zukunft mehr habe und sahen infolge des Antikommunismus im Kalten Krieg die Zukunft in einer Mi- schung von Marxismus, vor allem was dessen Wirtschaftstheorie und Organisationsvorstellungen betraf, und dem Anarchismus mit seiner Theorie des Individuums und der Freiheit. Sie geh=F6rten zur Federation Anarchiste, grun- deten abe@ eine Geheimgruppe, die die Fuhrung in der Federa- tion ubernehmen wollte, die bis dahin alle anarchistischen Rich- tungen gleichrangig tolerieren und organisieren wollte. Es war letztlich ein Streit um die Kon- trolle der neuen Organisation. Und auf einem Treffen der F@ deration Anfang 1953 gab es die Spaltung. Die alte Federation Anarchiste und "Le Libertaire" gingen mit Fontenis und wurden zur "Federation Communiste Libertaire" (2). Die andere Gru@ pe grundete die heutige Federa- tion Anarchiste, auf ihrer Seite waren Lapere, Joyeux und Lecoin. GWR: Hat der kurz@ vorher vollzogene Bruch zwischen Camus und Sartre, bei der diese Fragen ja auch eine Rolle ge- spielt haben, die Spaltung inhalt- lich beeinflusst? Wally: Zum Teil, ja. Sartre war damals ja mehr Kommunist als Libertarer. GWR: Die Anarchistlnnen machten dann also die "Le Monde Libertaire"? Wally: Es ist alles nicht so eindeutig, denn nach wie vor fand man/frau viele Anarchosyn- dikalistlnnen und auch Individua- listlnnen in der Federation An- archiste, neben Leuten, die C@ mus oder die Chansonniers Brassens und Ferre kannten. Viele anarchistische Gruppen wollten sich damals gar nicht zwisch0n den zwei Richtungen entscheiden. Doch die kom- munistische Richtung machte 1955 oder 56 den Fehler, an Wahlen teilzunehmen - und das hat die Konl@rrenzd@a@t@nt- schieden, weil es fur die Anar- chistlnnen ein Sakrileg war, an Wahlen teilzunehmen, da gab es nichts mehr dazu zu sagen. "Le Monde Libertaire" hat dadurch langsam den Platz von "Le Libertaire" eingenommen. Ab 1977 erschien sie wieder w=F6- chentlich.- Es wurde auch uber- legt, ob der Name wieder in "Le Libertaire" umgewandelt werden solle. Aber Altere, wie Joyeux, die beide Zeitungen g@ekannt hatten, waren dafur, an "Le Monde Libertaire" feskuhalten. Ausserdem war es gefahrlich, den Namen wieder zu- wechseln. Viele Leute hatten sie dann nicht mehr gekauft, weil sie sie mit der anderen Richtung identifiziert hatten. GWR: Kommen wir zu den 70er und 80er Jahren. Wie stellte sich die Zeitung zu neuen The- mer, zum Beispiel der @kologie? Wally: '68 gab es eine neue anarchistische Explosion in Frankreich, aber die alten Orga- nisationen hatten darin keine wichtige Rolle. Dann gab es die Entwicklung von eher maoisti- schen Organisationen, die nur die anarchistischen Spruche ubemahmen. Doch nach '68 entwickelten sich auch viele Kampfe, die uns wichtig sind: Antimilitarismus, @kologie, Re- gionalismus, feministische Kampfe, "Dritte Welt". Die an- archistischen Gruppen waren zu klein, nicht stark genug, um alles aufzunehmen. Deswegen wur- den andere Organisationen ge- grundet, zum Beispiel- =F6kologi- sche. Die Grunen in Frankreich spalteten sich in eine libertare und eine rechtskonservative Or- ganisaffon. Anarchistische Frau en grundeten autonome Frauen- gruppen. Kriegsdienst@en@ei- gerer grundeten antimifflaristi- sche Gruppen. Lecoin @r(indete eine eigene, pazifistisc@e Zei- tung, die heutige "Union Paci- fiste". (3) Alle Gruppen grun- deten neue Zeitungen. In "Le Monde Libertaire" erschien alles, was diese Gruppen machten, aber gewissermassen aus zweiter Hand. Das auch deshalb, well sich die "Le Monde Libertaire" immer als Synthese verstanden hat. Es gab zum Beispiel nach '68 eine "Zuruck auf's Land"- Bewegung. Sie wollte mehr von ihrem Thema in "Le - Monde Libertaire", aber es ist schwierig, alles auf einmal zu integrieren. Ausserdem waren das oft sehr junge Leute mit sehr wenig an- archistischem Hintergrund, aber grosser Fluktuation. Wir haben versucht, so darauf zu reagieren: In der Mitte der "Le Monde Libertaire" gab es immer eine Doppelseite, auf der ein Thema von einem grundsatzlich an- archistischen Standpunkt aus analysiert wurde. Die anarchisti- schen Ideen wurden dadurch entwickelt und verbreitet. Die Themen waren entweder aktuelle Nachrichten oder Geschichte. Das hat vielen jungen Leuten geholfen, Zugang zur anarchisti- schen Kultur zu bekommen, sie vermittelt zu kriegen. GWR: Meinst du, der Versuch, in "Le Monde Libertaire" die verschiedenen anarchisbschen Standpunkte zusammenzubrin- gen, war erfol@reich? Wally: Auch andere Zei- tungen, etwa "Charlie HeWo" (4) hatten eine libertare Ader. "Le Monde Libertaire" war mehr fur das Ernsthafte zustandig, da konnte man/frau lernen. Die ~Karikaturzeitung "Charlie Hebdo" war die wochentliche Zeitung futs Kampfen. Insgesamt hatten alle anar- chistischen Str=F6mungen ihre Methoden und Organisations- vorstelllungen ausprobiert, ob sie nun zu dirigistisch oder zu indivi- dualistisch waren. Wir k=F6nnen sagen: keine hat es geschaffl, die Revolution zu machen. Damit verglichen war die Federation Anarchiste recht erfolgreich. Sie hat eine Bibliothek, das Radio Libertaire und die Zeitung. Sie hat dafur gesorgt, dass sich die anarchistischen Ideen weiterent- wickeln. Wenn die Ideen nicht von innen konfrontiert werden dann werden sie von ausser; konfrontiert, um sich weiter- zuentwickeln. Was ist besser? Ich weiB es nicht. Vielleicht kann ich mit einem Bild sprechen: Ein Schiff wird auf einem Fluss fluss- aufwarts - gegen die Stromung - gezogen. Ob nun ein einziges Seil von vielen gezogen wird oder viele Seile von jeweils wenigen, ist unwichtig. Wichtig ist, dass die Richtung, in die gezogen wird, die gleiche bleibt. Andererseits finde ich eine Or- ganisation wichtis, die genau definiert, was die Rechte der Leute sind, die sich jeweils um die Zeitun@, um die Bibliomek, um das Radio kummern. Die Federation Anarchiste beinhaltet heute alle anarchistischen Rich- tungen. Deswegen gibt es auch viele Debatten und Diskussionen. Doch das hat Vorteile: wenn die Diskussionen intelligent gefuhrt werden und wir lernen, dem oder der anderen zuzuhoren, entwik- kelt sich auch unsere Fahigkeit nach aussen zu wirken. Ausser- dem ist dieses Ausdiskutieren ein Stuck libertarer Kultur, eine Art Ausbildungsort. Wir k=F6nnen es uns nicht mehr leisten uns un- tereinander zu bekarr;pfen. Wir sind Anarchistlnnen, um die Revolution zu machen, nicht um des Spasses willen zu streiten! Und die Revolution werden wir nicht mit ausschliesslich an- archisbschen Menschen machen. Wir werden mit anderen Leuten die Stadt organisieren mussen, mit Kommunistlnnen Marxistln- nen, vielleicht soga; Rassistln- nen, die wir integrieren mussen um sie unschadlich zu machen. Wir mussen uns deshalb daran gewohnen, mit Leuten zusam- menzuarbeiten, die andere Mei- nungen vertreten, die mit dir nicht einverstanden sind. Auch wenn diese Leute dann nicht in der Federation bleiben, lernen sie durch die Konfrontation mit unseren Ideen viel. So sind wir quasi eine Schule fur die Ausbil- dung von Aktivistlnnen. Wenn sie dann raus ins Leben gehen, sind sie von unseren Diskussionen ~gepragt. Sie brauchen nlcht mehr nach Befehlen zu fragen, um zu wissen, was sie tun wol- len. Es gibt auch Anarchistlnnen, die nicht zur Federabon kom- men. Trotzdem k=F6nnen wir zu- sammenarbeiten, zum Beispiel uber das Radio, das offener strukturiert ist. GWR: Vielen Dank fur das Gesprach.